Der Generalbundesanwalt beim Bundesgericht
An die Vorsitzende des 1. Strafsenats
des Kammergerichts Berlin
[...]
Aktenzeichen: 2 StE 11/00
Bearbeiter: Staatsanwalt Wallenta
25. Juni 2002
Betrifft: Strafverfahren gegen
- Sabine E[...]
- Harald G.[...]
- Matthias B[...]
- Axel H[...]
- Rudolf Sch[...]
wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung u.a.;
hier: Erklärung nach § 257 Abs. 2 StPO
Zu dem am 20. Juni 2002 erfolgten Vernehmung des Diplom-Chemikers
Dr. H[...] wird nach § 257 Abs. 2 StPO die folgende Erklärung
abgegeben:
- Das Gutachten des Sachverständigen erbrachte hinsichtlich
der möglichen Liegezeit im Seegraben kein Ergebnis.
1. Das hier in rede stehende Klebeband ist nicht wasserlöslich.
Der Sachverständige kam bei seinen Untersuchungen zu dem Ergebnis,
dass die Klebemasse auf dem in Rede stehenden Klebeband nicht etwa
auf Polyacrylaten basiert, sondern vielmehr auf Naturkautschuk.
Solche auf Naturkautschuk basierenden Klebemassen bauen sich insbesondere
im Wasser deutlich langsamer ab als Klebemassen, die Polyacrylate
enthalten. Dies liegt unter anderem daran, dass Kautschuk - im Gegensatz
zu Polyacrylaten - unter dem Einfluss von Wasser nicht hydrolysiert
und - ebenso wie der Trägerstoff PVC - sehr stabil ist.
2. Der Sachverständige konnte nicht einmal mit der erforderlichen
Sicherheit sagen, dass es sich bei dem vorliegenden Klebeband um
das Produkt "Tesa 4100" der Firma Beiersdorf handelt. Die zusätzliche
Bande bei 1537 cm kann nach Angaben des Gutachters nämlich
sowohl seine Ursache in einer Oxidation, als auch in der Nichtidentität
zwischen Vergleichsprobe und Untersuchungsobjekt haben (vgl. schriftliches
Gutachten S. 3) . Im Übrigen konnte der Gutachter auch nicht
darlegen, welche weiteren Inhaltsstoffe das Klebeband enthält
und ob diese der Rezeptur von "Tesa 4100" entsprechen.
In der Hauptverhandlung meinte der Sachverständige zwar, die
Oberflächenprägung des PVC-Trägers spreche für
eine Identität mit dem genannten Produkt der Firma Beiersdorf.
Er hat jedoch zugleich nicht ausschließen können, dass
noch andere Klebebänder mit vergleichbarer Oberflächenprägung
auf dem Markt sind oder waren.
3. Nach äußerlicher Betrachtung des Klebebandes ging
der gutachter von einer "hohen biologischen Aktivität" des
Seegrabenwassers aus, was er in erster Linie aus dem Algenbewuchs
ableitete. Allerdings bleibt festzustellen, dass dieser sich durchaus
nicht überall an dem band befand, sondern nur an Teilen, was
wiederum für eine niedrige biologische Aktivität sprechen
würde. Im Übrigen sagt eine "hohe biologische Aktivität"
natürlich nichts über die Art der Mikroorganismen aus,
die ein wässriges Milieu bevölkern.
4. Die Tatsache, dass der Klebestreifen im wesentlichen intakt
ist und sich das für die Klebemasse charakteristische Titan
noch nachweisen lässt, sagt für sich genommen überhaupt
nichts über eine mögliche Alterung des Klebebandes aus.
Der Sachverständige hat in der Hauptverhandlung auf die entsprechende
Frage der Verteidigerin des Angeklagten G[...] darauf hingewiesen,
dass die Freisetzung des titanhaltigen Pigments unter anderem eine
mikrobiologische Zersetzung der Klebemasse voraussetzt (vgl. auch
schriftl. Gutachten S. 6 unten). Die Ausspülung von Titan ist
also eine Begleiterscheinung der möglichen mikrobiologischen
Zersetzung. Insoweit zeigt das Vorhandensein von titan lediglich,
dass die Klebemasse nicht nennenswert zersetzt wurde. Es gibt
keine eigenständige Alterung durch "Titanausspülung".
5. Ein Hinweis auf eine kurze Wasserliegezeit lässt sich auch
nicht etwa zwingend aus der Tatsache herleiten, dass bei Probe 6
nicht die gesamte Falte mit Sedimenten aus dem Grabenwasser bedeckt
ist. Vielmehr kann dieses Phänomen wie auch der an weiteren
Stellen des Klebebandes trotz eines Wasserkontaktes zu verzeichnende
gute Erhaltungszustand der Klebemasse unterschiedliche Ursachen
haben. Das Paket war im Graben ersichtlich den verschiedensten Einflüssen
ausgesetzt. So spricht insbesondere die Tatsache, dass sich das
Sprengstoffpaket schließlich unter einer Schlickschicht auffand,
für erhebliche mechanische Einwirkungen durch Strömung
oder Ähnliches. Die Falte kann bei solcher Gelegenheit entstanden
sein. Ein Teil des Klebebandes kann sich - möglicherweise weil
es nicht hinreichend angedrückt war - im Verlaufe einer solchen
Einwirkung vom Müllbeutel gelöst haben. Die hier entscheidende
Frage, wie lange das Seegrabenwasser auf diese Klebeflächen
eingewirkt hat, lässt sich anhand der vom Sachverständigen
benannten Indizien "Fremdkörpereintrag" und "Klebefähigkeit"
nicht beantworten. Es ist nämlich völlig offen, wann möglicherweise
das die Klebeflächen von dem Haftgrund lösende Ereignis
eintrat, mithin, seit wann die genannte Falte oder die Klebeflächen
tatsächlich mit dem Wasser des Seegrabens in Kontakt waren.
6. Eine kurze oder lange Liegezeit konnte auch nicht unter Berücksichtigung
der mikrobiologischen Degradation nachgewiesen werden.
a) Neben der Alterung durch Lichteinwirkung kommt die mikrobiologische
Degradation in Betracht. Nach den Angaben des Sachverständigen
dürfte die Degradation durch Bakterien vorwiegend der Hauptweg
eines möglichen Abbaus sein.
Zum Ablauf einer möglichen - vorliegend aber kaum vorhandenen
- mikrobiologischen Degradation durch Bakterien griff der Sachverständige
auf eine 1997 veröffentlichte Untersuchung der Mikrobiologen
Jendrossek, Tomasi und Kroppenstedt zurück.
Bei dieser Untersuchung wurden aus Gewässer-, Boden- und anderen
Proben gewonnene Bakterien auf ihre Fähigkeit zum Abbau von
Naturkautschuk untersucht. Bereits hier wurde festgestellt, dass
sich solche Bakterien keinesfalls "überall" finden. Kautschukabbauende
Bakterien wurden lediglich in 3 von 33 Proben entdeckt. Bei 15 der
Proben handelte es sich um Bodenproben. Keine kautschukzersetzenden
Bakterien wies zum Beispiel eine aus einem asiatischen Fluss gewonnene
Probe auf.
Wenn die Verteidigung des Angeklagten Glöde nunmehr darauf
hinweist, dass es sich bei der Untersuchung um einen "Laborversuch"
handelte, so ist dem beizupflichten:
Untersucht wurde nämlich frisch aus der Pflanze gewonnener
Latex, der weiter durch Einsatz einer Zentrifuge gereinigt worden
war. Die Bakterien wurden einer konstanten Temperatur von 30° ausgesetzt.
Zunächst wurde Kautschuk als einzige Kohlenstoffquelle zugeführt.
Da die Bakterien aber die Fähigkeit haben, sich jede beliebige
Kohlenstoffquelle als Nahrungslieferanten zu erschließen,
wurden in einem zweiten Schritt einzelne solcher weiterer Kohlenstoffquellen
zugefügt. Es zeigte sich, dass gerade solche weiteren Kohlenstoffquellen,
die ein gutes Bakterienwachstum ermöglichten, die Bildung von
kautschukzersetzenden Enzymen durch die Bakterien in vielen Fällen
unterdrückten. Auf diese Hemmung der kautschukzersetzenden
Aktivitäten wurden insgesamt vier Kohlenstoffquellen getestet,
nämlich Citronellol, Succinate, Lactate und Glucose (vgl. S. 184
FN a & Tab. 2 S. 182-184). Aber schon bei dreien der
vier untersuchten Kohlenstoffquellen trat zumeist die Hemmung ein.
Natürlicher Kautschuk weist danach eine zu große Molekularmasse
auf, um von den Bakterien ohne weiteres aufgenommen zu werden. Es
bedarf eines besonderen Enzyms, um die Großmoleküle zuvor
"mundgerecht" aufzuspalten. Auf die Bildung des dafür nötigen
Enzyms wird jedoch verzichtet, wenn "einfachere" Nahrung zur Verfügung
steht.
b) In der Tat muss also berücksichtigt werden, dass der Versuch
in einem künstlichen System stattfand: Wie der Sachverständige
in der Hauptverhandlung darlegte, gibt es in der Natur Hunderte
von Kohlenstoffquellen und nicht lediglich vier. Darüber
hinaus können außerhalb des Labors biozide Substanzen
vorhanden sein, die ein Bakterienwachstum verhindern.
Weiterhin bestehen an der Übertragbarkeit der Untersuchung
auf die hier in Rede stehende Fragestellung auch aus folgendem Grund
durchgreifende Zweifel:
Wie der Sachverständige in der Hauptverhandlung vom 20. Juni
2002 darlegte, enthält die Klebemasse neben Kautschuk eine
Vielzahl weiterer Stoffe, die - aufgrund der Geheimhaltung der Rezeptur
durch die Hersteller - noch nicht einmal alle ermittelbar sind.
Selbst die Frage, ob es sich bei dem Kautschuk um natürlichen
Kautschuk handele oder um künstlich erzeugten, lasse sich nicht
beantworten. Jedenfalls wird man gereinigten Naturkautschuk nicht
ohne weiteres mit solchem vergleichen können, der sich in der
besonderen Umgebung einer Klebemassenformulierung befindet.
Mit anderen Worten: Es handelt sich bei der Untersuchung von Jendrossek
u. a. nicht um eine solche zur Biodegradation von Klebemassen
speziell im wässrigen Medium. Eine solche Untersuchung existiert
bislang auch nicht. Der Sachverständige hat in der Hauptverhandlung
dargelegt, dass er sowohl interdisziplinär mit Kollegen des
Instituts (die Verteidigung des Angeklagten G[...] weist zurecht
darauf hin, dass dort etwa 100 Mitarbeiter der verschiedensten wissenschaftlichen
Disziplinen mit Materialforschung beschäftigt sind), als auch
außerhalb nach einer solchen Arbeit gesucht habe. Es gebe
keine Untersuchung zu der aufgeworfenen Fragestellung. Gäbe
es solche, hätte er diese selbstverständlich seinem Gutachten
beigefügt.
Ich fasse zusammen: Vorliegend kommt in erster Linie eine Biodegradation
durch Bakterien in Betracht. Diese Bakterien sind keinesfalls ubiquitär
vorhanden. Schon die Untersuchung von Jendrossek u. a. hat
ergeben, dass in 3 von 33 Proben überhaupt keine Bakterien
existierten, die die Fähigkeit haben, Kautschuk zu zersetzen.
Aber auch bei Vorhandensein dieser Bakterien kann deren Fähigkeit,
kautschukabbauende Enzyme zu bilden, durch andere Kohlenstoffquellen
gehemmt werden. Zudem können biozide Einflüsse eine Kautschukzersetzung
verhindern, indem sie das Bakterienwachstum eindämmen. Untersuchungen
über die Biodegradation von Klebemassen speziell im wässrigen
Medium liegen nicht vor. Eine auch nur annähernde Eingrenzung
der Liegezeit im Wasser ist auf einer solchen Grundlage nicht möglich.
7. Soweit der Sachverständige auf Nachfrage eines Mitglieds
des Senats - nach Zögern - die Wahrscheinlichkeit eines Hinweises
auf eine kurze Liegezeit mit 70-80 % angab, tat er dies nach
der ausdrücklichen Aufforderung, jetzt einmal den wissenschaftlichen
Ansatz beiseite zu lassen. Im Rahmen seiner Befragung zur mikrobiologischen
Degradation musste er dann jedoch einräumen, dass die Hinweise
auf Kurzzeitlagerung jeder wissenschaftlichen Beweiskraft entbehren.
II. Die Aufklärungspflicht gebietet es nicht, ergänzende
Gutachten in Auftrag zu geben.
Angesichts des Ergebnisses des von Dr. Hartwig durchgeführten
Gutachtensauftrages bestehen keine weiteren sinnvollen Möglichkeiten
zur Aufklärung der Liegezeit durch Materialuntersuchungen.
Der Senat muss sich insbesondere nicht auf ausufernde Experimente
einlassen, denen es an einer sicheren Basis mangelt.
Es hat sich - wie oben unter I. gezeigt - erwiesen, dass die Lagerzeit
nicht mehr mit hinreichender Sicherheit nachträglich ermittelt
werden kann. Soweit ergänzende Versuchsanordnungen vorschlagen
werden, handelt es sich dabei um Experimente, die nicht mehr
rekonstruierbare Vorgänge in der Vergangenheit betreffen.
Gefestigte wissenschaftliche Untersuchungsmethoden gibt es zur
Problematik der Biodegradation von Klebemassen im wässrigen
Medium bislang nicht. Der Sachverständige Dr. Hartwig selbst
gab die Wahrscheinlichkeit weiterer Sachaufklärung durch einen
Langzeitversuch mit 50 % an. In seinem schriftlichen Gutachten
(dort S. 9) wies er ausdrücklich darauf hin, "Voraussetzung
für jede Art von Auslagerung in dem Grabenwasser" sei "jedoch,
dass sich die mikrobiologische Zusammensetzung im Laufe der letzten
Jahre nicht verändert" habe. Dies gelte "insbesondere im Bezug
auf die Arten von Mikroorganismen, die in der Lage sind Naturkautschuk
abzubauen".
Auch weitere mikrobiologische Untersuchungen versprechen deswegen
keinen Erfolg, weil die Umweltbedingungen des Jahres 1995 nicht
mehr mit hinreichender Genauigkeit herstellbar sind. Gab es damals
kautschukzersetzende Bakterien im Seegraben? Wenn ja, in welcher
Menge? Welche sonstigen Nahrungsquellen konnten diese damals vorfinden?
Gab es Schwankungen entweder hinsichtlich der Kohlenstoffquellen
oder durch die Möglichkeit der Einlagerung biozider Substanzen
durch Dritte? Gab es kurzfristige Gewässer- oder Schlickveränderungen
anderer Art?
Nichts spricht für die Vermutung, Wasser und Schlick des Seegrabens
dürften heute noch in etwa den Gegebenheiten des Jahres 1995
entsprechen. Dies ist vielmehr nichts anderes als eine Vermutung.
Die Beweisaufnahme am 20. Juni 2002 hat somit nicht nur ergeben,
dass das Gutachten auf ungefestigten Annahmen und Vermutungen beruht,
sondern auch, dass entsprechende wissenschaftliche Untersuchungen
nicht existieren. Weitere versuche oder Experimente würden
die Wiederherstellung nicht mehr rekonstruierbarer Umweltbedingungen
des Jahres 1995 voraussetzen.
Hierauf eine Beweisführung gründen zu wollen, führte
das strafprozessuale Erkenntnisverfahren ad absurdum.
Im Auftrag
Wallenta
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